Hubertusmesse in Vierzehnheiligen am 08. November 2008

Auch in diesem Jahr wurde am Samstag, 08. November um 18.00 Uhr eine feierliche Hubertusmesse des Bayerischen Jagdschutz- und Jägervereins gefeiert.
Mit Bravour meisterte die Parforcegruppe des Bayerischen Jagdschutz- und Jägervereins Lichtenfels unter Leitung von Peter Gerking das Liedgut uralter traditioneller Jagdsignale während der Hubertusmesse in der Basilika Vierzehnheiligen. Organisiert wurde auch in diesem Jahr diese besondere Messe durch Herrn Wasikowski.

P. Benedikt Grimm, der Guardian des Franziskanerklosters und der Kirchenrektor der Basilika Vierzehnheiligen, hielt eine sehr beeindruckende Predigt, wo er hauptsächlich auf die berühmte Rede des Häuptlings Seattle einging.



Im Folgenden finden Sie hier den Wortlaut der Predigt und danach die Originalfassung der Rede des Indianerhäuptlings.


Wir Franziskaner hoffen, dass wir dadurch einen kleinen Beitrag leisten können in der Versöhnung zwischen Mensch und Schöpfung.

Predigt von P. Benedikt Grimm:
(Lesung Dtn 8,7-18,  Ev. Lk 12, 22b-31)

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind in den vergangenen Monaten immer stärker ins öffentliche Bewusstsein getreten. Nun wurde mit Barack Obama ein Farbiger, Angehöriger einer einst gejagten und verachteten Minderheit zum Präsidenten gewählt.
Die Geschichte der USA ist auch eine Jagdgeschichte. Zuerst haben die Eroberer aus Europa Jagd gemacht auf Bisons, zu Millionen hat man sie buchstäblich über den Haufen geschossen aus reiner Freude am Schießen und Töten. Dann kamen die  Grizzlies dran und die Coyoten, und dann die Ureinwohner, die Indianer, die ihrerseits von der Jagd lebten. Und dann kam die Jagd nach Land und nach Geld – bis heute. 
Die Filmindustrie hat Jahrzehnte von diesem Thema gelebt: vom überlegenen und guten "Weissen Mann" und von den "grausamen wilden Rothäuten". Aus dieser Zeit (1854) stammt ein Dokument, die Rede des Häuptlings Seattle vom Stamm der Duwamish-Indianer vor Franklin Pierce, dem 14. Präsidenten der Vereinigten Staaten. Diese Rede ist die Antwort auf das Angebot, das Land des Stammes weißen Siedlern zu überlassen und die Indianer in einem Reservat unterzubringen.

 


Diese Rede enthält einige fast klassische Gedanken zur Beziehung von Mensch und Schöpfung. Meine Worte sind wie Sterne, sie gehen nicht unter, sagt der Häuptling Seattle. Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig. jede glitzernde Tannennadel, jeder sandige Strand, jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jede Lichtung, jedes summende Insekt ist heilig in den Gedanken und Erfahrungen unseres Volkes. Heilig, das Wort verwenden wir vor allem für Gott, aber auch für Menschen, deren Leben durchlässig war für Gottes Wirken wie das Leben des heiligen Hubertus. Heilig, das bedeutet unantastbar, tabu, der Selbstherrlichkeit des Menschen und seinem Verfügungswahn entzogen. Dem Heiligen gebührt Achtung, Ehrfurcht und Schutz. Manchmal denke ich, es gehört zu den großen Problemen der Menschen unserer Zeit, dass ihnen fast nichts mehr heilig ist, weder das Leben noch die Familie noch der Glaube noch die Schöpfung Gottes. Und wo das Heilige seine unantastbare Würde verliert, da sind die Grundlagen des Lebens akut bedroht.

Ich lese weiter in der Rede des Häuptlings Seattle: Wir sind ein Teil der Erde und sie ist ein Teil von uns. Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern, die Rehe, das Pferd, der grosse Adler – sind unsere Brüder. Die felsigen Höhen, die saftigen Wiesen, die Körperwärme des Ponys und des Menschen sie alle gehören zur gleichen Familie.
Fast ist in solchen Worten des Geist des heiligen Franziskus zu erspüren. Auch für ihn hatten die Geschöpfe Sonne und Mond, Wasser und Feuer, die Mutter Erde mit ihren Pflanzen und Tieren die Würde von Schwestern und Brüdern, sie hatten den gemeinsamen Vater im Himmel, mit ihnen verband ihn eine herzliche Beziehung und eine spürbare Verantwortung. Freilich, wenn die Familie zur Disposition gestellt wird, wenn sie an eher harmlosen Problemen zerbricht, dann verschwindet auch die Geschwisterlichkeit, dann wird das Leben nicht nur erbärmlich arm, es ist selbst in hohem Maß gefährdet.

Der weiße Mann muss die Tiere behandeln wie seine Brüder, fährt Häuptling Seattle fort und fragt: Was ist der Mensch ohne die Tiere? Wären alle Tiere fort, so stürbe der Mensch an großer Einsamkeit des Geistes. Was immer den Tieren geschieht, das geschieht auch bald den Menschen.

Alle Dinge sind miteinander verbunden. Was die Erde befällt, das befällt auch die Söhne der Erde. Wenn Menschen auf die Erde spucken, bespeien sie sich selbst. Denn das wissen wir: Die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört zur Erde. Alles ist miteinander verbunden, wie das Blut, das eine Familie eint. In einer einfachen Sprache bringt der Häuptling Einsichten und Zusammenhänge zur Sprache, die wir irgendwo alle kennen, die wir aber im praktischen Leben vergessen haben oder ignorieren aus Gedankenlosigkeit oder Überheblichkeit. Was immer Tieren geschieht, das geschieht auch bald den Menschen. Ein Wort von fast profetischem Zuschnitt! Wir leben heute nicht mehr von der Jagd wie die Indianer Nordamerikas.  Die Jagd dient dem Erhalt unserer Wälder und dem Schutz der Felder, nachdem das Gleichgewicht in der Natur durch die Aus-rottung der sog. Beutegreifer – Raubtiere hat man früher gesagt – nachhaltig gestört ist. Kritische Fragen allerdings kann man durchaus stellen, wo die Jagd, also auch Schießen um zu töten, zum Freizeitsport geworden ist und wo Trophäen behandelt werden wie Medaillen für einen Olympiasieg.

Der Dichter Erich Fried hat es einmal auf den Punkt gebracht:

Die Jungen
werfen
zum Spaß
mit Steinen
nach Fröschen.
Die Frösche
sterben
im Ernst.

Das Evangelium, das ich heute für diesen Gottesdienst ausgesucht habe, legt noch einen anderen Gedanken nahe. Jesu lädt die Menschen ein, von den Vögeln des Himmels und den Lilien des Feldes zu lernen. Die Raben säen nicht und ernsten nicht und haben keine Speicher; denn Gott ernährt sie. Die Lilien arbeiten nicht und spinnen nicht, aber selbst Salomo in all seiner Pracht war nicht ´gekleidet wie eine von ihnen. Von der Natur lernen, wie Leben geht, das ist ein spannendes Thema, wenn man sich denn darauf einlässt.
Die Schriftstellerin Ute Lalendorf hat einmal entfaltet, was das heißen hier und heute könnte:

Von der Sonne lernen, zu wärmen und zu strahlen,
von den Wolken lernen, sich leicht zu nehmen,
von dem Wind lernen, Anstöße zu geben,
von den Vögeln lernen, auch im Dunkel zu singen,
von den Bäumen des Waldes lernen, zusammenzustehen,
von den Blumen das Leuchten lernen,
von den Steinen das Bleiben lernen,
von den Büschen im Frühling Erneuerung lernen,
von den Blättern im Herbst das Loslassen lernen,
vom Sturm die Leidenschaft lernen
vom Regen lernen, sich zu verströmen,
von der Erde lernen, mütterlich zu sein,
vom Mond lernen, sich zu verändern,
von den Sternen lernen, einer von vielen zu sein.
Von den Jahreszeiten lernen, dass das Leben immer,
an jedem Tag von Neuem beginnt.

Und ich könnte fortfahren: Vom Brot lernen, sich verzehren zu lassen und vom Wein sich in den Dienst der Freude und des Genießens zu stellen. Unvermittelt sind wir bei dem angekommen, was wir jetzt feiern mit den Früchten der Erde und der menschlichen Arbeit. Wenn wir nach dem großen Dankgebet das Heilig singen, dann könnten wir uns an die Worte des Häuptlings Seattle erinnern: Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig. Amen


Urfassung der Rede des 1866 verstorbenen Häuplings der Suquamish und Duwamish-Indianer Seattle von 1854.
(Verfasst von dem Ohrenzeugen Dr. Henry A. Smith, erstmals veröffentlicht am 29.10.1887 in der Zeitung 'Seattle Sunday' - Quelle: Wikipedia)

Der alte Häuptling Seattle war der stattlichste Indianer, den ich jemals gesehen habe und bei weitem der, mit dem edelsten Gesichtsausdruck. Er maß beinahe sechs Fuß, wie er so dastand in seinen Mokassins, er hatte breite Schultern, eine mächtige Brust und war wohlproportioniert. Seine Augen waren groß, klug, ausdrucksvoll und freundlich, wenn sie in Ruhe waren, und spiegelten getreu die unterschiedlichen Stimmungen der erhabenen Seele, die durch sie hindurchschien. Er war meistens von feierlicher Ernsthaftigkeit, still und würdevoll, doch bewegte er sich bei wichtigen Anlässen durch die versammelte Menge wie ein Titan unter Liliputanern, und sein einfaches Wort war Gesetz.
Wenn er sich im Rat oder zum Zwecke freundschaftlicher Beratung erhob, um zu sprechen, richteten sich aller Augen auf ihn. Und sogleich flossen kräftige, wohltönende und beredte Sätze von seinen Lippen, gerade so wie die endlosen Donner der Katarakte aus unerschöpflichen Quellen fließen. Seine gesamte großartige Haltung war so edel wie die des zivilisierten militärischen Führers, der die Befehlsgewalt über die Streitkräfte eines Kontinent innehat. Weder seine Beredsamkeit noch seine Würde noch sein Anstand waren erworben. Sie waren für seine Männlichkeit natürlich, wie die Blätter und Blüten es für einen blühenden Mandelbaum sind.
Sein Einfluß war großartig. Er hätte auch ein Kaiser sein können, aber alle seine Instinkte waren demokratisch, und er herrschte über seine loyalen Untergebenen mit Freundlichkeit und väterlichem Wohlwollen.
Die Weißen schmeichelten ihm immer durch besondere Aufmerksamkeit, und dies besonders dann, wenn er mit ihnen zu Tisch saß. Und es war bei solchen Gelegenheiten mehr als irgendwo anders, daß er die angeborenen Verhaltensweisen eines Gentleman unter Beweis stellte.
Als Gouverneur Stevens zuerst in Seattle eintraf und den Eingeborenen mitteilte, dass er zum Kommissar für indianische Angelegenheiten im Washington-Territorium ernannt worden sei, bereiteten sie ihm einen überschwenglichen Empfang vor Dr. Maynards Dienstgebäude nahe am Hafen an der Main Street. Die Bucht wimmelte von Kanus, und das Ufer war gesäumt von einer lebendigen Masse wogender, sich windender dunkler Menschen. Bis dann die trompetengleiche Stimme des alten Häuptling Seattle über die unermeßliche Menge rollte wie das aufrüttelnde Signal einer tiefen Trommel, woraufhin so augenblicklich vollkommene Stille folgte, wie sie wohl auf einen Donnerschlag aus heiterem Himmel folgt.

Darauf wurde der Gouverneur von Dr. Maynard der Menge der Eingeborenen vorgestellt. Er begann sofort - in schlichtem, direktem Gesprächston - seine Aufgabe bei ihnen zu erklären. Diese ist nur allzu bekannt, als daß es hier einer Wiederholung bedürfte.
Als er sich setzte, erhob sich Häuptling Seattle mit all der Würde eines Senators, der die Verantwortung für eine große Nation auf seinen Schultern trägt. Indem er seine Hand auf den Kopf des Gouverneurs legte und langsam mit dem Zeigefinger der anderen Hand zum Himmel wies, begann er seine denkwürdige Ansprache in feierlichem und ausdrucksvollem Ton:

"Der Himmel dort droben, der seit unzähligen Jahrhunderten Tränen des Mitgefühls auf unsere Vorfahren geweint hat und uns ewig erscheint, kann sich dennoch stets verändern. Heute ist er schön, morgen schon kann er von Wolken bedeckt sein. Meine Worte sind wie Sterne, die nicht untergehen. Was Seattle dem großen Häuptling Washington ("Die Indianer dachten früher, dass Washington noch am Leben sei. Sie kannte den Namen als den eines Präsidenten und wenn sie vom Präsidenten in Washington hörten, verstanden sie den Namen der Stadt als den des regierenden Staatsoberhauptes. Sie glaubten auch, dass König Georg immer noch Englands regierender Monarch sei, weil die Händler der Hudson Bay sich selbst 'König Georgs Männer' nannten. Die Handelsgesellschaft war schlau genug, die Indianer über diesen harmlosen Irrtum nicht aufzuklären. Ihre Mitglieder wussten, dass die Indianer so mehr Respekt vor ihnen hatten, als wenn sie gewußt hätten, dass England von einer Frau regiert wurde. Einige von uns wissen es inzwischen besser." Anmerkung von Dr. Smith) sagt, darauf kann er sich mit der gleichen Sicherheit verlassen, wie sich unsere weißgesichtigen Brüder auf die Wiederkehr der Jahreszeiten verlassen können.
Der Sohn des weißen Häptlings sagt, sein Vater sende uns Grüße der Freundschaft und des Wohlwollens. Das ist freundlich, denn wir wissen, dass er unserer Freundschaft wenig bedarf, weil sein Volk groß ist. Sie sind wie das Gras, das die unermeßliche Prärie bedeckt, während meine Leute nur wenige sind und den vereinzelten Bäumen auf einer vom Wind gepeitschten Ebene gleichen.
Der große - und ich nehme an - auch gute weiße Häuptling schickt uns die Nachricht, dass er unser Land kaufen möchte, dass er aber auch gewillt ist, uns zu erlauben, genug davon für uns zurückzubehalten, damit wir gut weiterleben können. Das erscheint mir wirklich großzügig, denn der Rote Mann hat keine Rechte mehr, die respektiert werden müßten; auch mag das Angebot weise sein, da wir nicht länger das weite Land benötigen. Es gab eine Zeit, da unser Volk das ganze Land überzog, wie die Wellen des windgekreuselten Meeres seinen muschelgepflasterten Boden bedecken. Aber die Zeit ist lange vergangen, und mit ihr geriet die Großartigkeit der Stämme ebenfalls in Vergessenheit. Ich will nicht klagen über unseren verfrühten Niedergang, noch meinen weißgesichtigen Brüdern den Vorwurf machen, ihn beschleunigt zu haben, denn auch wir mögen an manchem die Schuld tragen.


Wenn unsere jungen Männer wegen eines tatsächlichen oder scheinbaren Unrechts ärgerlich werden und ihre Gesichter mit schwarzer Farbe entstellen, dann sind auch ihre Herzen entstellt und werden schwarz; und dann ist ihre Grausamkeit unbarmherzig und kennt keine Grenzen, und unsere Alten sind nicht in der Lage sie zurückzuhalten.
Aber lasst uns hoffen, daß die Feindseligkeiten zwischen dem Roten Mann und seinen weißgesichtigen Brüdern niemals wiederkehren. Wir hätten alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.
Wahr ist es, dass Rache - sogar auf Kosten des eigenen Lebens - unter unseren jungen Kriegern als erstrebenswert angesehen wird; aber alte Männer, die in Kriegszeiten zu Hause bleiben, und die Frauen, die Söhne zu verleiren haben, wissen es besser.
Unser großer Vater Washington, denn ich nehme an, er ist genausogut unser Vater wie eurer, seit (König) Georg seine Grenzen nach Norden verlegt hat; unser großer und guter Vater, sage ich, sendet uns durch seinen Sohn, der ohne Zweifel bei seinem Volk ein großer Häuptling ist, die Nachricht, daß er uns beschützen wird, wenn wir tun, was er verlangt. Seine tapferen Armeen werden für uns ein starrender Wall der Stärke sein und sein großen Kriegsschiffe werden unsere Häfen füllen, so daß unsere alten Feinde, die Simsiams und Hydas, nicht länger unsere Frauen und alten Männer ängstigen.

Dann wird er unser Vater sein und wir seine Kinder.
Aber kann das jemals sein? Euer Gott liebt euer Volk und hasst meins; er legt seine starken Arme liebend um den Weißen Mann und führt ihn, wie ein Vater seinen kleinen Sohn führt. Aber er hat seinen Roten Kinder im Stich gelassen; er lässt euer Volk jeden Tag stärker werden und bald werden sie sich über das ganze Land ausgebreitet haben, während unser Volk dahinschwindet wie die schnell zurückweichende Ebbe, die niemals wieder zurückströmen wird. Der Gott des Weißen Mannes kann seine Roten Kinder nicht lieben, sonst würde er sie beschützen. Sie scheinen Waisen zu sein, die nirgens Hilfe finden. Wie können wir da Brüder werden? Wie kann euer Vater unser Vater werden, uns Wohlergehen bringen und in uns Träume einer wiederkehrenden Größe erwecken?


Euer Gott scheint parteiisch zu sein. Er kam zum Weißen Mann. Wir sahen ihn nie, hörten noch nicht einmal seine Stimme. Er gab dem Weißen Mann Gesetze, aber er hatte keine Worte für seine Roten Kinder, von denen viele Millionen diesen unermeßlichen Kontinent füllten, wie die Sterne das Firmament füllen. Nein, wir sind zwei verschiedene Rassen und müssen es bleiben. Es gibt wenig gemeinsames zwischen uns. Die Asche unserer Vorfahren ist heilig, und ihre letzte Ruhestätte ist geweihter Boden, während ihr euch von Gräbern eurer Väter anscheinend ohne Trauer entfernt.

Eure Religion wurde von dem ehernen Finger eines erzürnten Gottes auf Steintafeln geschrieben, damit ihr sie nicht vergessen solltet. Der Rote Mann konnte das niemals behalten und auch nicht begreifen. Unsere Religion besteht in den Traditionen unserer Vorfahren, den Träumen unserer alten Männer, die ihnen vom Großen Geist eingegeben wurden, und in den Visionen unserer Weisen - und sie steht geschrieben in den Herzen unseres Volkes.


Eure Toten hören auf, euch und den Ort ihrer Geburt zu lieben, sobald sie die Pforte des Grabes passiert haben. Sie wandeln weit entfernt, jenseits der Sterne, sind bald vergessen und kehren niemals zurück. Unsere Toten vergessen niemals die wunderschöne Welt, die ihnen Leben gab. Immer noch lieben sie die gewundenen Flüsse, die großartigen Berge und die einsamen Täler; und immer empfinden sie die zärtlichste Zuneigung zu denen, die mit einsamen Herzen leben, und sie kehren oft zurück, um diese zu besuchen und zu trösten.
Tag und Nacht können nicht beieinander verweilen. Der Rote Mann ist immer vor dem herannahenden Weißen Mann geflohen, wie die schwankenden Nebel auf der Bergseite vor der aufstrahlenden Morgensonne fliehen.
Wie auch immer: Euer Vorschlag scheint gerecht zu sein, und ich denke, mein Volk wird ihn akzeptieren und sich auf die Reservation zurückziehen, die ihr ihm anbietet; und wir werden abseits und in Frieden leben; denn die Worte des großen weißen Häuptlings scheinen die Stimme der Natur zu sein, die zu meinem Volk aus dem undurchdringlichen Dunkel spricht, welches sich so schnell um meine Leute zusammenzieht wie ein dichter Nebel, der sich vom mitternächtlichen Meer auf das Land schiebt.


Es ist ziemlich unwichtig, wo wir den Rest unserer Tage verbringen. Es sind ihrer nicht mehr viele. Die Nacht des Indianers verspricht dunkel zu werden. Kein heller Stern steht am Horizont. Winde klagen in der Ferne mit trauriger Stimme. Irgendeine grimmige Memesis, eine Rachegöttin unserer Rasse, ist auf der Fährte des Roten Mannes; und wo er auch geht, er wird stets die todsicher herannahenden Schritte des grausamen Zerstörers hören und sich darauf vorbereiten, seinen Verhängnis entgegenzugehen - gleich dem verwundeten Reh, das die herannahenden Schritte des Jägers hört. Nur wenige Monde mehr, wenige Winter, und nicht einer von den gewaltigen Scharen, die einst dieses weite Land füllten oder die nun in aufgelösten Gruppen durch die weite Einöde streifen, wird übrigbleiben, um an den Gräbern eines Volkes zu weinen, das einst so mächtig und hoffnungsvoll war wie das eure.
Aber warum sollten wir klagen? Warum sollte ich über das Schicksal meines Volkes murren? Stämme bestehen aus einzelnen Menschen und sind nicht besser als diese. Menschen kommen und gehen wie die Wellen des Meeres. Eine Träne, eine Totenklage, und sie sind für immer unserem sehnsüchtigen Blick entschwunden.


Auch der Weiße Mann, dessen Gott mit ihm gegangen ist und zu ihm gesprochen hat wie ein Freund zum anderen, ist nicht ausgenommen von dieser allgemeinen Bestimmung. Vielleicht sind wir letztlich doch alle Brüder und Schwestern. Wir werden sehen.

Wir werden über euren Vorschlag nachdenken, und wenn wir entschieden haben, werden wir es euch wissen lassen. Doch sollten wir ihn akzeptieren, so stelle ich bereits hier und jetzt eine Bedingung: dass uns nicht das Recht abgesprochen wird, ohne Belästigung und nach unserem Willen die Gräber unserer Vorfahren und Freunde zu besuchen.
Jeder Teil dieses Landes ist meinem Volke heilig. Jeder Hang, jedes Tal, jede Ebene und jedes Gehölz ist geheiligt durch eine zärtliche Erinnerung oder eine traurige Erfahrung meines Stammes. Sogar die scheinbar stumm in der Sonne brütenden Felsen der Küste in ihrer feierlichen Größe sind getränkt von Erinnerungen an vergangene Ereignisse, die mit dem Schicksal meines Volkes verbunden waren. Und selbst der Staub unter unseren Füßen antwortet liebevoller auf unsere Schritte als auf eure; denn er ist die Asche unserer Vorfahren, und unsere nackten Füße sind sich der wohlwollenden Berührung bewusst, da der Boden reich ist durch das Leben unserer Familien.
Die grimmigen Krieger und die liebevollen Mütter, die frohgemuten Mädchen und die kleinen Kinder, die hier lebten und sich freuten, und von denen man jetzt nicht einmal mehr den Namen kennt, lieben immer noch diese Einöde, und ihre dunklen Winkel werden zur Abendzeit schattig durch die Anwesenheit der Geister der Dämmerung.

Und wenn der letzte Rote Mann von dieser Erde verschwunden sein wird, und die Erinnerung an ihn unter den Weißen zu einem Mythos geworden ist, dann werden diese Gestade wimmeln von den unsichtbaren Toten meines Stammes; und wenn sich eure Kindeskinder allein fühlen auf dem Feld, im Geschäft, auf der großen Straße oder in der Stille der Wälder: Sie werden nicht allein sein. Auf der ganzen Erde gibt es keinen Ort, der der Einsamkeit geweiht ist. In der Nacht, wenn die Straßen eurer Städte und Dörfer still geworden sind und ihr sie verlassen wähnt, werden sie voll sein von den zurückkehrenden Scharen, die einst dieses wundervolle Land bevölkerten und es jetzt noch lieben. Der Weiße Mann wird niemals allein sein. Möge er gerecht sein und freundlich mit meinem Volk umgehen, denn die Toten sind nicht völlig machtlos."


Andere Redner folgten, aber ich machte mir keine Notizen mehr. Gouverneur Stevens Antwort war kurz. Er versprach nur, mit ihnen bei irgendeiner zukünftigen Gelegenheit in einer allgemeinen Ratsversammlung zusammenzutreffen, um den vorgeschlagenen Vertrag zu diskutieren. Häuptling Seattles Versprechen, den Vertrag - falls einer ratifiziert werden sollte - zu befolgen, wurde bis auf den Buchstaben genau eingehalten, denn er war stets der unerschütterliche und treue Freund der Weißen. Der oben wiedergegebene Text ist nur ein kleiner Teil seiner Rede, und es fehlt ihm auch all der Zauber, den ihm die Ausstrahlungskraft und Ernsthaftigkeit des schwarzhaarigen, alten Redners sowie die Situation verliehen.

Dr. Henry A. Smith, 1887